Einleitung

Sprachräumliche Einordnung

Der Rheingau liegt im mitteldeutschen Sprachraum; mitteldeutsch hier verstanden als Mitte zwischen Nord und Süd, d. h. zwischen Nieder- und Oberdeutsch. Der Raum fängt westlich der Linie Köln – Straßburg an, geht von Köln gerade nach Osten, am Südrand ostwärts bis Nürnberg und nimmt dann an Tiefe langsam ab, bis er sich an Oder und Neiße verläuft. Zwischen Fulda und Werra liegt die Trennlinie von west- und ostmitteldeutsch. Im Nordwesten des westmittel¬deutschen Bereichs vom Hunsrück bis zur Mosel und im Westerwald wird moselfränkisch gesprochen. Im Südwest- und Ostteil von der pfälzisch-elsässischen Grenze über Karlsruhe bis zum Zweistrom¬land zwischen Fulda und Werra, nördlich abgegrenzt durch Nahe und Taunusausläufer liegt unsere Region, in der rheinfränkisch gesprochen wird. Nochmals teilt sich dieser Bereich etwa an der Linie Darmstadt – Frankfurt – Untertaunus; von da ab nach Osten babbelt man hessisch. (Wer den Verhältnissen über diese dürre Beschreibung hinaus nachspüren möchte, dem wird ein Blick auf die Landkarte sicher helfen).

Der Rheingauer spricht also genau genommen nicht hessisch. Das hat seine Ursache darin, dass wir Jahrhunderte lang einerseits zum Herrschaftsgebiet der Mainzer Erzbischöfe gehörten und andererseits durch das Gebück gegen das rechtsrheinische Hinterland gut abgeschirmt waren. Demzufolge ist unser Dialekt am nächsten mit dem Mainzerisch-Rheinhessischen verwandt.

Weil aber Sprache keine Torte ist, bei der Grenzen scharf wie Schnitte verlaufen, gibt es an allen Rändern flie¬ßende Übergänge. Wir kennen das von echten Sprachgrenzen wie etwa in Tirol zu Italien oder zwischen Elsass und dem Saarland zu Frankreich und vom Aachener Gebiet zum Flämischen. Nicht anders ist es bei den Dialekten. Die Unterschiede von uns zum Untertaunus, zu Wiesbaden, Frank¬furt und Darmstadt sind nur graduell, und genau so ist es von Rheinhessen zur Pfalz und zum Saarland. Deshalb sind uns Ernst Elias Niebergalls „Datterich“ (Darmstadt), die Gedichte von Friedrich Stoltze (Frankfurt) und Rudolf Dietz (Wiesbaden-Naurod) und die Stücke von Carl Zuckmayer (Mainz) ebenso ans Herz gewachsen wie die Werke von Hedwig Witte aus der Klostermühle auf der Grenze zwischen Eltville und Kiedrich. Letztlich sind es kleine und kleinste Differenzen zwischen Ortschaften, wie sie auch innerhalb des Rheingaus schon vorkommen, die sich dann über längere Strecken summieren.

Dazu, wie vielfältig – um nicht zu sagen verwickelt – solche Grenzübergänge im Einzelnen sind, hier einige Beispiele.

Kennzeichnend für die Abgrenzung des rheinfränkischen Sprachraums ist am Südrand die Linie, an der beim pf das f wegfällt (Apfel > Appel bzw. Pfund > Pund). Am Nordrand zum moselfränkischen hin wechselt das und was zu dat und wat. Weiter nördlich, am Rand des mitteldeutschen Sprachgebiets zum niederdeutschen hin, finden wir den Wechsel von Zeit, ich und mache zu Tid, ik und make.

Andere Wechsel weichen von Sprachraumgrenzen ab. So geht es eng am Rhein entlang bis nach Koblenz, also weit in den moselfränkischen Bereich hinein, ehe der Wechsel uns > us stattfindet. Ebenso geht es, allerdings in breiterem Keil, über die Mosel hinaus bis Bonn mit dem Wandel des Personalpronomens er > he. Der Wechsel als > as schiebt sich auch, nun wieder schmaler, am Rhein entlang bis über Düsseldorf nach Norden vor. So können uralte Verkehrswege sich auswirken. Im Rheingau zeigt sich das daran, dass der Dialekt, vor allem die Aussprache der Vokale, in den Höhengemeinden weniger abgeschliffen ist als in den Talorten.

So etwas wie den Wechsel des zwischen Vokalen eingeschlossenen d / dd zu r / rr (Bruder > Brure bzw. wieder / widder > werre / wirre) gibt es außer bei uns (rhein- und moselfränkisches Gebiet ohne West¬-zipfel) nur in Mecklenburg. Das e am Ende von Worten wie müde ist nur in einem breiten Streifen vom Emsland bis zur Oder-Neiße erhalten; im großen Rest südlich und nördlich davon ist es geschwunden (apokopiert). Heit für heute nimmt den ganzen Süden bis zu uns ein und verläuft sich an der Linie Bonn - Kassel - Dresden, von wo ab heute gilt. Ähnlich ist es mit dem Samstag, der allmählich gegen den Sonnabend im Norden vordringt.

Auch mitten im Rheingau lassen sich Sprachübergänge finden. Der Wechsel fest > fescht quert den Rhein und erreicht den unteren Rheingau, dort werden also st und sp auch im Wort und am Ende zu scht bzw. schp. Das gilt uneingeschränkt für Rüdesheim und Lorch mit ihren Stadtteilen; dort wird sogar bei er isst, ihr müsst und ihr wisst gezischt: Er ischt, ihr mischt und ihr wischt. Rheinaufwärts ab Geisenheim entfällt der Zischlaut etwa bei fest, sonst und bei Verben in der zweiten Person Singular (du hoscht, du derfscht etc.), bleibt aber z.B. bei ’s Mehrschde, annerscht, Berscht, Dorscht, Mischt, Worscht und wiescht (wüst) erhalten, wenn man den Erhebungen des Sprachwissenschaftlers Georg Wenker in den 1880er Jahren folgt. Gewissermaßen umgekehrt verteilt ist die Umlautung der / er / wer > dar / ar / war; sie findet sich vor allem bei denen, die weniger zischen.

Ebenfalls nach Wenker erreicht der oben erwähnte Wechsel uns > us den Rheingau gerade so eben ganz am nordwestlichen Rand, nämlich in Espenschied, Presberg und Ransel.

Die Rheininseln werden von Walluf bis Rüdesheim Auen genannt, ab dem Mäuseturm abwärts, etwa vor Lorch heißen sie Wert.

Die Uhrzeitangaben verdienen hier einige Worte, auch wenn sie eher umgangssprachlich als dialektal sind. Hier herrscht eine Nordwest- / Südostgliederung vor. Nordwestlich der Linie Kiel - Kassel - Aschaffenburg - Saarbrücken wird man um 06.15 / 18.15 Uhr „viertel nach sechs“ sagen, südöstlich davon „viertel sieben“. Südlich der Donau gilt dann wieder „viertel nach sechs“. Ähnlich verläuft die Grenze zwischen „viertel vor sechs“ (nordwestlich) und „dreiviertel sechs“ (südöstlich), wenn es 05.45 / 17.45 Uhr ist. Wir befinden uns recht nahe an der Trennzone, deswegen kann man hier sowohl „verdel vor“ als auch „dreiverdel“ hören, allerdings nur „verdel noo sechs“ und nicht „verdel sibbe“ wie im ersten Beispiel.

Dadurch, dass das Rheinfränkische mit der zur Schriftsprache erhobenen sächsischen Kanzleisprache auf einer Höhe liegt, weist es im Verhältnis zu anderen Mundarten wenig sprachliches Sondergut auf. Unser Dialekt unterscheidet sich vor allem durch die Lautung vom Hochdeutschen und wird daher oft nicht als selbständige Mundart, sondern als verwaschenes Hochdeutsch betrachtet. Da aber auch eine eigenständige Grammatik wahrzunehmen ist, kann man doch feststellen, dass eine eigene sprachliche Richtung des Deutschen vorliegt.

Bei der Beliebtheit der Regionalsprachen schneiden wir leider nicht gut ab. Die entsprechenden Umfragen beziehen sich verständlicherweise nicht auf kleinräumige Dialekte, deswegen gilt für uns Frankfurt bzw. Hessen. Ganz gleich ob 1958 die westdeutsche Gesamtbevölkerung befragt wurde oder 1990 die im dritten Lebensjahrzehnt, wir liegen vor Sachsen / Leipzig an vorletzter Stelle. Aber man soll ja nach Churchill nur an Statistiken glauben, die man selbst gefälscht hat …